Projektleitung: Flavia Rüegg, Dominique Späth unter Mitwirkung von Fiora Pedrina
Institution: Literargymnasium Rämibühl in Zusammenarbeit mit der Kantonsschule Wohlen (AG)
Kontakt: flavia.rueegg@lgr.ch

Bücherrégal-ité - den Literaturkanon hinterfragen: Im Kanon der deutschsprachigen Literatur dominieren sowohl in den Schulen als auch an den Universitäten Männer. Weshalb ist das so und inwiefern können Autoren einfach durch Autorinnen ersetzt werden? Weil auch die SuS vermehrt den Wunsch äussern, mehr Werke von Autorinnen zu lesen, wollen wir diesen Fragen mit einem E-Learning-Lehrgang auf den Grund gehen. Wir analysieren dabei nicht nur die Inhalte zweier Werke, sondern gehen auch auf die unterschiedlichen sozialen Bedingungen, die Rezeptionsgeschichte und die Kanonbildung ein.

Bücherrégal-ité

Beschreibung

Auslöser für diese Projektidee war der Blick in das Bücherregal. Obwohl feministische Anliegen bei uns auf offene Ohren stossen, ist die Quote der Autorinnen, die es in unser Regal geschafft haben, erschreckend tief. Unser Projekt befasst sich anhand zweier Werke mit der Frage, weshalb das Missverhältnis der Geschlechter im Bücherregal so gross ist. Da Erzählungen unser Weltverständnis wesentlich beeinflussen, ist die Auseinandersetzung mit verschiedenen Perspektiven zentral, um sich in der Welt angemessen orientieren zu können und Werthaltungen, die nicht männlich dominiert, sondern divers sind, auszubilden.

In einem E-Learning-Lehrgang, mit dem die SuS selbständig arbeiten, stellen wir das Werk Gabriele Reuters «Aus guter Familie» Theodor Fontanes «Effi Briest» gegenüber. Beide genossen Ende des 19. Jahrhunderts grosse Popularität.

Wir gehen der Frage nach, welche Faktoren dazu beitrugen, dass Reuters «Aus guter Familie» in Vergessenheit geraten ist, währenddessen Fontanes «Effi Briest» zu einem Klassiker avancierte. Anhand der konkreten Exempel wird sichtbar gemacht, weshalb wir uns gegenwärtig mit einem männlich dominierten Kanon konfrontiert sehen.

Die SuS befassen sich mit geschlechterspezifischen Rezeptionsgeschichten und -bedingungen. Sie erlangen ein Bewusstsein darüber, wie Literatur von Frauen respektive von Männern unterschiedlich bewertet wurde und wird. Darüber hinaus setzen sich die SuS innerhalb der Werke und anhand der beschriebenen Figuren mit verschiedenen Rollenzuschreibungen kritisch auseinander. Dadurch schärfen sie ihren Blick für diverse gesellschaftliche Perspektiven.

Innovationspotential

Durch den Einsatz eines E-Learning-Tools (voraussichtlich mit articulate (https://articulate.com)) in der Phase der Lektürebesprechung wird der Deutschunterricht didaktisch neuartig gestaltet. Das E-Learning-Tool, das Tonaufnahmen, kurze Texte und informative Filme enthält, ermöglicht ein individuelles und multimediales Lernen. Zudem unterstützt das Tool die SuS darin, individuelle Lernwege zu beschreiten.

Unterschiedliche Lerneinheiten des E-Learning-Tools fördern eine vielschichtige Auseinandersetzung mit Gleichstellungsfragen (vgl. didaktisch-methodisches Konzept). Ferner handeln beide ausgewählten Werke von der psychischen Verfassung einer jungen Frau. Dies bietet Anlass, um über Zusammenhänge zwischen gesellschaftlichen Bedingungen und psychischer Gesundheit nachzudenken (vgl. didaktisch-methodisches Konzept).

 

Didaktisch-methodisches Konzept

Was soll gelernt werden?

Der Frauenstreik 2019 führte zu einem breiteren feministischen Bewusstsein in der Schweizer Öffentlichkeit, so dass die SuS die Behandlung feministischer Themen im Unterricht einfordern. Um eine feministische Perspektive auf die deutsche Literatur zu eröffnen, wird exemplarisch an den folgenden beiden Werken gearbeitet. Voraussetzung, um die Lerneinheit bearbeiten zu können, ist die Lektüre des Werks Gabriele Reuters «Aus guter Familie» (1895) und Auszüge aus Fontanes «Effi Briest».

Das E-Learning-Tool zeigt anhand Reuters Werk «Aus guter Familie» sowie Fontanes «Effi Briest» exemplarisch auf, wie ein feministischer Literaturunterricht aussehen könnte. Ergänzt werden die Lerneinheiten mit weiteren Texten (z.B. Virgina Woolfs «A Room of One's Own»).

Dabei werden drei Lerneinheiten entworfen, die verschiedene Ebenen vertiefen. Es wird sowohl Faktenwissen, konzeptuelles Wissen als auch prozedurales Wissen vermittelt, dies rezeptiv (lesen, hören) und produktiv (schreiben, sprechen). Jede Lerneinheit untersucht eine übergeordnete Leitfrage.

1. Rezeptionsgeschichte: Weshalb geriet das Werk von Reuter in Vergessenheit?

Die Rezeptionsgeschichte der beiden Werke wird nachgezeichnet und miteinander verglichen. Die SuS erlangen ein Bewusstsein darüber, welche Bedingungen dazu führen, dass ein Werk über seine Zeit hinaus berühmt bleiben kann bzw. es in Vergessenheit gerät.

2. Inhaltsanalyse: Welche Faktoren führen dazu, dass beide Hauptfiguren am Ende einen psychischen Zusammenbruch erleiden?

Die SuS setzen sich inhaltlich vertieft mit dem Werk «Aus guter Familie» auseinander und vergleichen es mit exemplarischen Ausschnitten aus dem Werk «Effi Briest». Die SuS gehen auf feministische Themen, verschiedene Figuren und unterschiedliche Perspektiven innerhalb der Werke ein und reflektieren diese.

3. Reflexion Kanonbildung : Weshalb lesen wir in der Schule mehr Literatur von Männern als von Frauen?

Die SuS arbeiten heraus, welche Gründe es gibt, dass die «Frauenquote» im Literaturkanon so tief ist bzw. weshalb männliche Autoren dominieren.

Wie wird dabei vorgegangen?

Das E-Learning-Tool orientiert sich an Aeblis didaktischem Konzept PADUA (s. Hans Aebli: Zwölf Grundformen des Lehrens. Eine allgemeine Didaktik auf psychologischer Grundlage; Medien und Inhalte didaktischer Kommunikation, der Lernzyklus. 14. Aufl. Klett-Cotta, Stuttgart 2011). Das Akronym PADUA steht für Problemdarstellung, Aufbau, Durcharbeiten, Üben, Anwenden.

Zu Beginn jeder Lerneinheit werden die SuS an die grundlegende Frage herangeführt, um ihr Interesse zu wecken. Beim Aufbau wird den SuS neues Wissen auf multimediale Weise vermittelt. Mittels interaktiven (geschlossenen) Übungen arbeiten die SuS den neuen Stoff durch und üben ihn ein. Zudem enthält jedes Modul mindestens eine Aufgabe, die eine individuelle Lösung zulässt. Am Ende des Moduls beantworten die SuS die zugrundeliegende Frage individuell.

Wie werden die gesteckten Ziele erreicht?

Das E-Learning-Tool steigert die Motivation der SuS, weil Faktenwissen sowie konzeptuelles Wissen multimedial vermittelt wird.

Interaktive Lernaufgaben, die auf Bild, Ton, Video und Schrift zurückgreifen, dienen dazu, das Wissen zu repetieren, das Verstehen zu vertiefen und anzuwenden (z.B. Textverständnisaufgaben, Figurenkonstellationen beschreiben). Den Lernfortschritt können die SuS selbständig überprüfen (summative Beurteilung möglich).

Zudem enthalten die einzelnen Module Aufgaben, bei denen die SuS ihr prozedurales Wissen vertiefen, indem sie dazu angehalten werden, Informationen und Zusammenhänge zu analysieren, zu bewerten und eigene Gedanken zu produzieren (z.B. Figurenanalyse, Bewertung des Verhaltens). Die individuellen Antworten werden zusammengefasst (z.B. in einem E-Portfolio / mit einem Poster) oder der Klasse präsentiert (formative Beurteilung möglich).

Damit die SuS sozial eingebunden sind und um die Arbeit am Computer zu rhythmisieren, erfordern gewisse Aufgaben eine Lernpartnerin oder einen Lernpartner.

Wirkung

Es handelt sich um ein E-Learning-Tool, das die Diskussion zur Kanonbildung anstösst, Wissen anbietet und auffordert, sich Wissen dazu anzueignen.

Bewusstsein über geschlechterspezifische Stereotypen und Normen der SuS schärfen

Literatur hat einen Einfluss auf unsere Werthaltungen und unsere Weltsicht, weshalb im Literaturunterricht auch weibliche Perspektiven besprochen werden müssen. Wie zeichnen Frauen resp. Männer ihre Figuren? Welches Verhalten wird von einer weiblichen resp. von einer männlichen Figur erwartet? Wer erhält wofür Anerkennung? Was gilt als helden- resp. heldinnenhaft? Welche Werte werden dadurch vermittelt? Welche Auswirkungen hat dies?

Denk- und Handlungsoptionen ausserhalb von männlich dominierten Wertmustern vermitteln

Literatur eröffnet immer auch Handlungs- und Denkräume. Figuren und deren Erlebnisse können den SuS Vorbilder sein und ihnen als Orientierung dienen. Die SuS befinden sich in einem Alter, in dem die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen besonders intensiv erfolgt. Um nicht allein in männlich geprägten Werthaltungen verhaftet zu bleiben, ist es unabdingbar, auch weibliche Perspektiven und Bewertungen kennen zu lernen und solche als legitim zu erfahren.

Logiken der Wissensproduktion und –vermittlung erkennen

Durch die Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Rezeptionsgeschichten der beiden Werke bilden die SuS ein Bewusstsein über geschlechterspezifische Machtverhältnisse aus. Eine solche Auseinandersetzung regt dazu an, die Logiken der Wissensvermittlung und -produktion nicht nur innerhalb der Literatur zu hinterfragen, sondern auch in allen anderen Bereichen (z.B. Geschichtswissenschaft, Biologie / Medizin, Informatik u.v.m.).

Den Lehrpersonen einen Zugang zu einem feministischem Literaturunterricht ermöglichen

Die Aufgaben zu den beiden ausgewählten Werken können auf andere Werke übertragen werden. Sie sind ein Beispiel dafür, wie mit der Schwierigkeit umgegangen werden kann, eine Diversifizierung zu ermöglichen, ohne die «alten Klassiker» aussen vorzulassen.

Der Teil des E-Learning-Tools, der sich mit Rezeptionslogiken und Kanonbildung befasst, kann unabhängig der für den Unterricht ausgewählten Werke genutzt werden. Das E-Learning-Tool regt andere Lehrpersonen dazu an, sich mit weiteren Werken von Frauen in der Literaturgeschichte auseinanderzusetzen und sich Material dazu zu erarbeiten. Prospektiv wäre eine Plattform wünschenswert, auf der Lehrpersonen solches Material mit anderen teilen.

 

SAMR-Modell

Erläuterung zum SAMR-Modell.

Im SAMR-Modell kann das vorliegende Projekt in den Bereich der "Augmentation" eingeordnet werden, da die beschriebene Plattform multimediale Inhalte und interaktive Übungen umfasst und somit funktionaler Verbesserungen gegenüber rein analogen Unterlagen bietet.

Und sonst?

Soll die Projektidee für andere Themenfelder geöffnet werden?

Wir haben uns in diesem Projekt bewusst auf das Themenfeld “Literatur von Frauen” beschränkt. Wie unsere Ausführungen oben zeigen, besteht allein bei diesem Themenfeld ein enormer Nachholbedarf. Die Fokussierung auf zwei Werke erlaubt es, spezifische Problematiken klarer herauszuarbeiten. Folglich wird im Rahmen dieses Projekts das Themenfeld nicht erweitert. Es liegt jedoch in unserem Interesse, das neuerarbeitete technische und inhaltliche Wissen auf weitere Themenfelder zu übertragen.

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